Zirkus in Russland

Zwar waren es im 19. Jahrhundert vor allem westeuropäische Kunstreiter und Zirkusdirektoren, die den Zirkus als Kulturgut ins damalige Zarenreich Russland brachten. Aber die Russen hatten von Anfang an ein Herz für den Zirkus, und so konnte sich diese Kunst hier zu einem breitenwirksamen und zugleich anspruchsvollen Kulturzweig entwickeln. Dies geschah verstärkt in der Ära des Sowjetsozialismus, als die Zirkusse verstaatlicht und einer zentralen Verwaltung unterstellt wurden. Nach 1945 entstanden nach dem Vorbild der alten Zirkusbauten in Moskau und St. Petersburg beinahe in sämtlichen größeren Städten Russlands feste Gebäude, die speziell für Zirkusvorstellungen geschaffen waren und das ganze Jahr über bespielt wurden. Ähnliches kennt man in Westeuropa nur von Theatern. Doch nicht nur die Spielstätten etablierten sich; auch inhaltlich stand der sowjetische Staatszirkus jahrzehntelang an der Weltspitze, was die Leistung wie den künstlerischen Ausdruck von Zirkusnummern betraf. Bevor neue Richtungen wie der Noveau Cirque in Frankreich oder der Cirque du Soleil in Kanada geboren wurden, setzte die russische Zirkuskunst international Akzente, blieb dabei in ihrem Wesen aber immer "klassisch". Bis zum Beginn des Russland-Ukraine-Krieges 2022 hatten russische Artistenschulen und Studios bzw. Ateliers eine große internationale Bedeutung für die Etablierung und Weiterentwicklung der Zirkuskunst. Regisseure aus Russland produzierten jedes Jahr neue, teils innovative Darbietungen, die von internationalen Festivals gebucht wurden. Zudem waren russische Artisten in Zirkussen auf der ganzen Welt zahlenmäßig stark vertreten. Es bleibt abzuwarten, wie sich das angesichts des Ukrainekriegs und danach in Zukunft verhält.


Die meisten der über 40 Zirkusgebäude Russlands - ausgenommen die in St. Petersburg und Moskau! - unterstehen der staatlichen Zirkusvereinigung "Rosgoszirk" (s. unten), der Nachfolgeorganisation des sowjetischen Staatscircus. Deren damaliger künstlerischer Direktor Alexander Kalmikow (später Generaldirektor) sagte 2008 im Interview gegenüber der deutschen Circuszeitung: "Circus war immer und ist auch heute noch ein bedeutender Teil der russischen Kultur. [...] Nur wenn der Staat einen Teil der Kontrolle [über den Circus] behält, kann er überleben." Kalmikow sorgte sich schon damals um die Zukunft des Zirkus: "Das Goldene Zeitalter [...] ist vorbei." Die meisten russischen Zirkusbauten sind inzwischen renovierungsbedürftig. Die Zuschauerzahlen sind in vielen Städten kontinuierlich gesunken (die Moskauer Zirkusse laufen nach wie vor gut). Rosgoszirk begann 2011 mit Hilfe eines milliardenschweren staatlichen Investitionsprogramms die Renovierung und Umrüstung der Zirkusbauten zu multifunktionellen Vergnügungszentren mit Hotels, Kinos etc. Auch wenn sich darin der russische Hang zum Gigantismus äußert, eröffnete man dem Zirkus so auch zukünftig Chancen als öffentlich gefördertes Kulturgut.


Eine große Bedeutung im 20. Jahrhundert spielten die Clowns, deren Nummern sich durch eigenen Stil von denen im Westen abhoben. Einige artistische Requisiten und Disziplinen - etwa der Russische Barren oder die Russische Schaukel - weisen schon durch ihren Namen auf Ursprünge in Russland hin. Auch die Kosakenreiterei stammt natürlich aus russischen Regionen. Nicht zuletzt haben Tierdressuren in Russland eine große Tradition. Die Arten und das Repertoire der dressierten Tiere sind vielfältiger als im Westen. Der Bär als russische Symbolfigur spielt eine wichtige Rolle. Manchmal werden Tiere noch in menschlichen Kostümen vorgeführt - dem Publikumsgeschmack in Russland durchaus entsprechend. Nicht untypisch für russische Zirkusprogramme sind sehr lange Nummern, die mit eigenem Titel versehen als thematische Schaustücke präsentiert werden. So kann eine 20- bis 30-minütige Raubtiernummer, ein orientalisches Bild oder eine Illusionsschau einen Teil der Vorstellung dominieren.


Zirkusse in Moskau und St. Petersburg, Staatliche Zirkusgesellschaft etc.


Großer Moskauer Staatscircus

(Большой Московский Государственный Цирк)

Bolschoi heißt auf Russisch groß, aber auch viel. In Bezug auf den Moskauer Staatscircus soll das Wort vielleicht die Bedeutung des Betriebs hervorheben, wobei auch die Ausmaße des Gebäudes auf dem früheren Lenin-Hügel recht gigantisch sind. Der 1971 von Leonid Breschnew eröffnete Bau zählt bis heute zu den größten Zirkusgebäuden der Welt (3.400 Sitzplätze, 36 m hohe Kuppel). Obgleich in die Jahre gekommen, ist es mit zahlreichen technischen Raffinessen ausgestattet: So befinden sich in der Mitte 5 Manegen untereinander, die je nach Show (Eisrevue, Wassershow..) innerhalb von Minuten ausgetauscht werden können. Die Programme sollen nach wie vor auf hohem Niveau sein. Erstaunlicherweise untersteht der Bolschoi-Zirkus nicht der staatlichen Zirkusvereinigung Rosgoszirk (s. oben)! Ob er von der Stadt Moskau unterhalten wird, ist selbst Experten momentan ein Rätsel. Zum Ensemble gehören mehrere hundert Artisten, die von Zirkussen und Varietés in aller Welt gebucht werden. Die etwas schwerfällige Webseite ist leider nur in Russisch verfügbar.


Großer St. Petersburger Staatscircus

(Большой Санкт-Петербургский Гос. Цирк)

Der Circus in St. Petersburg gehört als ältestes Zirkusgebäude Russlands zu den ältesten erhaltenen weltweit. Er wurde 1877 vom italienischen Zirkuskünstler und -direktor Gaetano Ciniselli eröffnet, der mit seiner Familie nach St. Petersburg ausgewandert war und die Leitung mehrerer Zirkusse in verschiedenen Städten innehatte. Die Bezeichnung "Großer Staatscircus" legt nahe, dass der Circus heute zur staatlichen Rosgoszirk (s. oben) gehört - genaue Informationen liegen mir hierzu nicht vor. Häufig wird er auch Circus auf Fontanka genannt, da er unmittelbar am Ufer des Newa-Armes mit dem Namen Fontanka liegt. Das Gebäude wurde nach der Jahrtausendwende aufwändig restauriert, die alt erhaltene Fassade wieder dem Original angepasst. Der Innenraum wirkt moderner (anscheinend in der Sowjetzeit erneuert) und ist heute mit allen möglichen technischen Raffinessen ausstaffiert, so z.B. mit Düsen für große Wasserfontänen. Seit 1928 enthält das Gebäude auch ein Zirkusmuseum, das mit einer Menge Exponaten zwar zu den bedeutendsten der Welt gehört, aber zzt. nur nach Voranmeldung für Gruppen geöffnet wird bzw. kurz vor Beginn der Vorstellungen. Die Programme sind von unterschiedlicher Qualität, in der von mir besuchten Show gab es keine Live-Musik. In dem Bau werden auch internationale Veranstaltungen wie das Festival für Circus-Regisseure ausgetragen. Die Webseite ist in Russisch und Englisch verfügbar.


Internationales Festival der Circuskunst in Ischewsk

(Ischewsk, Republik Udmurtien)                                        


In der Großstadt Ischewsk im mittleren Russland (Teilrepublik Udmurtien) fand von 2007 bis 2020 ein internationales Circusfestival im städtischen Zirkusgebäude statt. Ob es eine Neuauflage gibt, bleibt abzuwarten. Schirmherr war der Präsident Udmurtiens (Alexander A. Volkov), der von der Fédération Mondiale du Cirque zum "Botschafter des Circus" ernannt wurde. Hier wird Wert auf klassischen Zirkus mit Tieren, Akrobaten und Clowns gelegt. Schwerpunkt im Festival-Programm bilden zwar russisch-sprachige Artisten, es treten jedoch Künstler aus verschiedenen Ländern an. Die Reise nach Udmurtien setzt natürlich etwas Abenteuerlust voraus - die nächstgelegenen Städte mit regelmäßigen Flugverbindungen dürften Kazan und Jekaterinburg sein. Solange der Krieg gegen die Ukraine währt, sind alle Empfehlungen für Russland natürlich ohnehin eingeschränkt. Die Webseite des Zirkusbaus von Ischewsk ist nur in Russisch verfügbar; sie enthält neben regulären Programm-Infos des Zirkusbaus einen Link mit Informationen zum Festival.


Moskauer Circus Nikulin  (Московский Цирк Никулина)

Der Nikulin-Circus am Tsvetnoy Boulevard im Herzen Moskaus wird von den Moskauern teilweise noch "Alter Circus" genannt. Ursprünglich stand hier ein 1880 eröffneter Zirkus des deutschen Kunstreiters Albert Salamonsky, der zu jener Zeit verschiedene Zirkusse in Europa besaß. Bis zum Bau des Bolschoi Circus (s. oben), bildete der Alte Circus das Herzstück des russischen Staatscircus. Von 1982-97 stand er unter der Direktion des berühmten Clowns und Filmschauspielers Yuri Nikulin (1921-97), daher sein heutiger Name. In Nikulins Amtszeit wurde das alte Gebäude abgerissen (1985) und durch den heutigen Bau ersetzt (1989). Die alte Frontfassade wurde originalgetreu in die neue Fassade integriert. Ebenso hat man das Innere des edel gestalteten Neubaus in vielen Details dem alten Zirkus nachempfunden, was laut Kennern zugleich eindrucksvoll und atmosphärisch-gemütlich wirkt. Die Platzkapazität (2000 Zuschauer) und die technischen Möglichkeiten wurden erweitert, heute werden hier aufwändige Zirkusprogramme, Eisrevuen u.a. Shows gezeigt. Zum Künstlerensemble gehören Spitzenartisten, die weltweit in Zirkussen und Varietés arbeiten. Der Circus Nikulin wird noch von einem Sohn Yuri Nikulins geleitet und ist als eigenständiges Unternehmen unabhängig von der staatlichen Zirkusagentur Rosgoszirk. Die Webseite läuft teilweise in Englisch, "hängt" aber immer mal wieder.


Staatliche russische Zirkusgesellschaft

(Российская гос. цирковая компания "Росгосцирк")

Die staatliche russische Zirkusgesellschaft Rosgoszirk - so die offizielle Abkürzung - ist das Nachfolgeunternehmen des Russischen Staatscircus sowjetischer Ära und bis heute die Dachorganisation der meisten russischen Zirkusse. Als eigenständiges (wenn auch staatliches) Unternehmen ist die Rosgoszirk im Prinzip der größte Zirkus der Welt. Ihr gehören 42 feste Zirkusbauten, von denen jeder einen eigenen Direktor hat, außerdem mehrere Zeltzirkusse, ein paar reisende Tierzirkusse (Menagerien), Wasser-/Eisrevuen sowie weitere spezielle Shows. Von den rund 8.000 Beschäftigten sind ca. 3.000 Artisten. Im Repertoire der Rosgoszirk befinden sich ungefähr 500 Zirkusnummern, von denen viele in eigenen Studios kreiert werden. Man produziert Zirkusfestivals an verschiedenen Orten. Die Zentren der Rosgoszirk sind Moskau und Rostov am Don. Die Webseite läuft leider nur in Russisch.


Theater "Das Eckchen/Plätzchen von Großväterchen Durow"

(Театр "Уголок дедушки Дурова", Tiertheater in Moskau)

In Moskau gibt es neben den beiden großen Zirkussen (s. oben) ein drittes festes Zirkusgebäude, das Ende des 19. Jhdts. durch den bekannten Tierlehrer Anatoli Durow (1887-1928) an der eigens nach ihm benannten Uliza Durowa eröffnet wurde, nur etwa 700 m vom Circus Nikulin entfernt. Der Name oben im Link ist die ungefähre wörtliche Übersetzung aus dem Russischen; in Online-Reiseführern wird es auch als "Opa-Durow-Wunderland" übersetzt. Man zeigt dort Märchen und andere Stücke mit vielen, teils ungewöhnlichen Tieren und einigen Schauspielern. Die dressierten Tiere spielen sozusagen Theaterrollen. Noch heute wird das Haus von Nachfahren Anatoli Durows geleitet. Die Durows hatten Einfluss auf die Entwicklung der russischen Zirkuskunst: Aus der Familie sind nach Anatoli weitere einflussreiche Tiertrainer hervorgegangen, die zu Sowjetzeiten sehr bekannt waren. - Die Webseite ist nur in Russisch verfügbar, es gibt aber zahlreiche Bilder. Das Dargebotene ist sicher nicht jedermanns Sache; wir können auch keine Garantie für den Umgang mit den Tieren geben. Interessierten Zirkuskennern ist das Theater als solches aber aufgrund seiner Geschichte zu empfehlen, und Familien für einen Besuch mit Kindern.