Zirkusleben: Ein Blick hinter die Kulissen


"Nirgends auf der Welt, dachte Nabil [...], liegen Lüge und Wahrheit, Schönheit und Hässlichkeit, Glanz und Elend so nahe beieinander wie im Circus."

(Rafik Schami, "Reise zwischen Nacht und Morgen")

 

"Auch ohne Kostüm wirken [die Artisten] glamourös. Die farblosen Arbeiter, die überall umherlaufen, existieren zwar im gleichen Universum, aber offenbar in einer anderen Dimension. Sie reagieren mit keiner Geste aufeinander."

(Sara Gruen, "Wasser für die Elefanten")

 

Arbeiter beim Circus Krone (Gastspiel in Berlin) machen Pause


Ein persönliches Wort vorweg

Ich selber bin nie mit einem Zirkus mitgereist und kenne die Branche lediglich über meine zahlreichen Zirkusbesuche, über Informationen aus der Fachpresse (vor allem der Circuszeitung) sowie über einzelne Führungen hinter den Kulissen von Zirkusunternehmen, bei denen man mit dem ein oder anderen Mitarbeiter oberflächlich ins Gespräch gekommen ist. Darüber hinaus habe ich noch ein wenig Fachliteratur über die "Fahrenden" gelesen. Aus Sicht der Zirkusleute bin ich somit "privat", keiner von ihnen. Und so kann ich hier eben nur aus meinem Hobby-Wissen heraus versuchen, ein paar Hintergründe und Schwierigkeiten aus der Lebenswelt Zirkus knapp zusammengefasst zu schildern. 

Das abenteuerlich-romantisch anmutende Wanderleben der Zirkusleute zwischen Kargheit und Glanz wird nirgendwo besser spürbar als auf den Plätzen traditioneller Reisezirkusse, wie hier beim Circus Berolina in Berlin-Lichtenberg.

Parallelwelt Zirkus

Alle Zirkusleute haben eines gemeinsam: sie sind ständig unterwegs. Die Welt der „Fahrenden“ ist seit je her eine Parallelwelt zum bürgerlichen Dasein der „Privaten“ (= in der Zirkussprache alle Personen, die nicht zum Zirkus gehören). Wenn man dazugehören will, erwarten Zirkusleute, dass man sein früheres, bürgerliches Leben aufgibt und den Zirkus fortan als Arbeitsplatz und Wohnort betrachtet. Mitreisende „von Privat“ haben mir erzählt, dass sie ihren kompletten früheren Freundeskreis aufgegeben haben. Anfangs lassen einen die Zirkusleute gerne die Distanz spüren. Den Privaten / Bürgerlichen / „Gadjos“ * gegenüber überwiegt verhaltene Skepsis; oft braucht es eine Weile, bis die Reisenden „auftauen“.

Freilich haben viele Reisende irgendwo etwas Festes - eine Wohnung, ein Haus, ein Grundstück. Da aber die Saison lang ist und für die Artisten auch im Winter viele Engagements auf dem Plan stehen, halten sie sich nie länger an festen Wohnorten auf. Nicht wenige von ihnen haben tatsächlich keine feste Anlaufstelle, sondern leben dauerhaft im Wohnwagen.

*) Gadjos (Zirkussprache) = gleiche Bedeutung wie "Private". Das Wort stammt aus der Sinti-Sprache, obwohl nur wenige Zigeuner mit Zirkussen reisen. Die Sinti nennen alle Nicht-Sinti "Gadjo". (Erläuterung: Circus-Lexikon von Schulz/ Ehlert)

Obere Reihe - 1: Circus Carl Busch an einem trüben Tag auf dem Heiligengeistfeld (Hamburg). - 2: Der Circuspalast der Familie Huppertz musste bei einem Hamburg-Gastspiel mit einem versteckten Platz in einem Wohnviertel vorlieb nehmen. - 3: Abendliche Winterstimmung zu Silvester beim Zirkus Zaretti in Itzehoe (vorne: Besucher gehen ins Stallzelt). 

Untere Reihe: Schmucke Vorderfront (1) und Alltag hinterm Zelt (2) beim früheren dänischen Traditionszirkus Benneweis.

3: Wohnwagen-"Idylle" beim dänischen Cirkus Arena auf einem Platz in Sönderborg.

Soziales Gefüge

Hinter den Kulissen eines reisenden Zirkus bestimmt harte Arbeit den Alltag, und wer im Zirkus mitreisen will, braucht wohl so etwas wie ein dickes Fell. Wichtig für die Betrachtung des Sozialgefüges eines Zirkus ist die Unterscheidung zwischen Artisten und Chefs auf der einen und Arbeitern (Zirkussprache: „Racklos“) auf der anderen Seite. Diese grobe Zweiteilung, die sozusagen über der differenzierten Hierarchie der Mitarbeitenden steht, hat zumindest in den meisten traditionellen Reisezirkussen bis heute überstanden. Häufig findet so gut wie keine Kommunikation zwischen den beiden "Lagern" statt. Die Arbeiter stehen in der Rangliste seit je her weit unten und müssen sich deshalb mit weitaus geringerem Lohn und Komfort begnügen als die Artisten. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes Mitreisende zweiter Klasse. Was die Sozialromantik ebenfalls schmälert, ist der oftmals raue Ton unter den Mitarbeitern.

Bilder - 1: Beim Schnappschuss im Circus Krone wird die Rangordnung zwischen Artisten (auf dem Todesrad) und Arbeitern (unten an den Sicherheitsmatten) bildlich. - 2+3: Arbeiterwagen im Circus Roncalli, am Kanal in Hamburg-Hammerbrook.

Zirkusfamilien

Der Zirkusdirektor wird in manchen kleineren Zirkussen noch heute als Prinzipal bezeichnet. So hießen bereits die Chefs der Kunstreiter- und Seiltänzertruppen vor der Entstehung des neuzeitlichen Zirkus; der Ausdruck wurde früher auch für Schulleiter, Geschäftsinhaber oder Vorgesetzte verwendet (er ist laut Handelsgesetzbuch immer noch gültig für Inhaber kaufmännischer Unternehmungen). Carl Krone vom bekannten Münchener Großzirkus nannte sich in den 1920er/30er Jahren sogar „Zirkuskönig“, weil das Unternehmen an der Spitze der europäischen Zirkusse stand. Denn zwischen den Zirkussen gibt es (nach wie vor) Rangunterschiede je nach Unternehmensgröße. In früheren Zeiten rechnete man haarspalterisch die Zahl der Pferde, Elefanten und anderer Tierarten auf oder orientierte sich an der Zahl der Mitarbeiter oder der Größe des Fuhrparks, um die Konkurrenz zu überbieten. Die frühere Einteilung in Groß- und Familienzirkusse (mit der Zwischenstufe der Mittelzirkusse) macht indes kaum mehr Sinn, da die Grenzen mittlerweile verwischt sind.

Viele der traditionellen, oft kinderreichen Zirkusfamilien in Deutschland sind heute weit verzweigt. Anstatt sich aber zusammenzutun und alle Kraft in den Aufbau eines Qualitätsprogramms zu investieren,  gründet fast jeder Zweig einer Familie einen eigenen kleinen Zirkus. Manche schaffen es nach außen hin - betreffend Zelt, Fuhrpark oder Tierbestand - zu beträchtlicher Größe, was dann bei Besuchern falsche Erwartungen weckt, weil man einen Großzirkus vermutet, wohinter sich ein kleiner Familienzirkus verbirgt. Im Folgenden zähle ich einige angestammte Zirkusfamilien aus Deutschland alphabetisch auf, um ein paar Namen anklingen zu lassen. Althoff und Busch seien vorweg genannt, weil sie in den allermeisten Fällen, wo sie noch vorkommen, nur vermietet werden, aber nicht mehr auf den Inhaber eines Zirkus verweisen. An Familien seien sonst angeführt: Brumbach; Bügler; Fischer; Frank; Freiwald; Hecker (auch Häcker gibt es); Heilig; Huppertz; Kaiser; Kaselowsky (Casselly); Kastein; Köhler; Köllner; Lauenburger; Maatz; Neigert; Ortmann; Probst; Renz; Richter; Riedesel; Rogall; Schmidt; Scholl; Sperlich; Spindler; Traber; Weisheit; Wille; Zinnecker... um nur einige bekannte oder häufige zu nennen. Falls die jungen Generationen aus den Familien Siemoneit-Barum oder Paul (Roncalli) in Zukunft Zirkusse führen, zählen auch sie dazu, auch wenn ihre Gründer von Privat kamen - und die Großzirkusse sich ohnehin ein wenig abheben. Die in der Schweiz und Österreich präsente Familie Knie bspw. wird in der Schweizer Presse fast wie "Hochadel" behandelt.

Bilder: Im Kontrast wirkt der Direktionswagen des C. Roncalli geradezu mondän (1), nicht ganz so der ebenfalls gut ausstaffierte Wagen von Gerd Siemoneit im früheren C. Barum (2). - 3: Wohnwagen unterschiedlicher Güteklasse auf dem Platz des Circus Barum in Bottrop 2008. - 4: Wohnwagen des Schweizer Circus Knie in Lausanne am Genfer See.

Sprösslinge aus traditionellen Zirkusfamilien suchen sich fast immer Lebenspartner aus der eigenen Zunft. Es ist nicht nur eine Frage der persönlichen Haltung, sondern hängt einfach auch damit zusammen, dass sich die Lebenswelten von Reisenden und Privaten so extrem unterscheiden. Für eine Liebesbeziehung zwischen Reisendem und Privatem müsste einer der Partner sein bisheriges Leben aufgeben. Ungeachtet dieser scheinbaren Kluft kommen immer wieder Ehen zwischen Artisten und Bürgerlichen zustande. In den Kleinzirkussen haben die Eltern teilweise noch weitreichende Entscheidungsbefugnisse und nehmen Einfluss auf die Heiratspläne ihrer Kinder. Bei Hochzeiten zwischen Gauklerfamilien zieht die angeheiratete Frau in der Regel in den Zirkus des Ehemanns. Ebenso sind viele Familien in Kleinzirkussen patriarchalisch strukturiert: Der Vater als Familienoberhaupt hat das Sagen, ohne den Chef kann nichts entschieden werden. Solche familiären Strukturen findet man in den großen, von einer „Chefetage“ geführten Zirkussen nicht. Manche Direktoren von Großzirkussen kommen auch von Privat.

Religion spielt im Leben der Zirkusleute durchaus eine Rolle. Den meisten Familien ist eine Anbindung an ihre Kirche wichtig, Taufen und seelsorgliche Betreuung werden wahrgenommen. Die katholische Kirche hat dafür eine deutschlandweite Circus- und Schaustellerseelsorge organisiert, während die evangelischen Landeskirchen dies überwiegend mit ehrenamtlichen oder im Ruhestand befindlichen Pastoren regeln. Manche Zirkusfestivals oder Weihnachtszirkusse feiern Gottesdienste im Zirkuszelt. Auch wenn es nach außen oftmals gerade nicht so scheint: Eine gewisse Demut oder Frömmigkeit ist Zirkusleuten nicht abzusprechen. Ihr Leben hängt schließlich von vielen Faktoren ab; man setzt sich Risiken und Gefahren aus. Leider kommt es trotzdem in manchen Familienzweigen zu kriminellen oder gewalthaften Auswüchsen, was aber nicht auf das Gros der Zirkusleute zutrifft. Presseberichte schüren bisweilen solche Vorurteile. 

Bilder: Schöne Holzschindel-Wagen im Schweizer Circus Nock (1) und von Raubtierlehrer Dieter Dittmann bei einer Tournee im Circus Barum (2). - Russische Artisten in ihrer Freizeit im früheren Zirkus Probst (Ost) in Rostock. - 4: Weißclown in Trainingsjacke unterhält sich vor der Show mit Mitarbeiterinnen des Circus Krone.

Die Artisten

Die Artisten, die vom Zirkus für eine oder mehrere Saisons verpflichtet werden, haben in der Regel eine bedeutend höhere Stellung als die Arbeiter. Internationale Spitzenartisten verdienen gutes Geld und können sich große Luxuswagen oder Hotelzimmer leisten. Mit der Zugkraft der Nummer steigt der Wert eines Artisten. Hochkarätige Preisträger wie die Gewinner des Circusfestivals von Monte Carlo verlangen hohe Gagen und sind daher für kleine Zirkusse zu teuer. Selbst in großen Zirkussen bekommt man häufig nur einzelne hochpreisige Nummern zu sehen. Die Gagen werden monatlich, wöchentlich, oder - bei kürzeren Engagements wie Weihnachtszirkussen - pro Gastspiel ausgezahlt. Auch pro Tag kann eine Gage festgelegt werden. In unseriösen Zirkussen führen ausbleibende Gagen manchmal zum vorzeitigen Ausscheiden von Truppen aus laufenden Saisonprogrammen. So etwas ist natürlich immer ein schlechtes Aushängeschild für einen Zirkus.

Die meisten Zirkusse engagieren heute nur noch Artisten, die mehrere Nummern im Repertoire haben. Der Vorteil besteht darin, dass der Zirkus die Truppe oder den Einzelartist „nur“ insgesamt bezahlen muss; der Preis für die einzelnen Darbietungen sinkt. Erheblich teurer sind Programme, in denen jede Nummer von anderen Artisten dargeboten wird. Der gehäufte Einsatz von Allroundartisten kann so zulasten der Programmqualität gehen, wobei es auch vielseitige Spitzenartisten gibt, die in allen von ihnen dargebotenen Disziplinen stark sind. Ist eine Nummer einmal einstudiert, sind keine dauernden Proben mehr erforderlich. Die Routine wird durch die täglichen Vorstellungen aufrechterhalten, und für manche Spitzenartisten würde es sogar eine gewisse Blöße darstellen, wenn sie tägliche Proben nötig hätten. So haben die Artisten unter allen Mitreisenden die meiste Freizeit. Die größte Einschränkung besteht wohl darin, dass sie sich nie länger vom Zirkusplatz entfernen können. Urlaub oder Ferien sind in der Zirkuswelt beinahe Fremdwörter.

Bilder: Alltagsmomente im winzigen Circus Kaiser - einem von mehreren mit diesem Namen - bei einem Gastspiel im Hammer Park, in unserem Wohnviertel in HH-Hamm. Inzwischen reist die Familie mit Puppentheater und Hüpfburgen.

Ständig am Arbeitsplatz

Ähnlich wie auf einem Schiff, so verbringen auch die Menschen im Zirkus ihren gesamten Tagesablauf am Arbeitsplatz. Es bedeutet nicht zwangsläufig, dass man rund um die Uhr schuften muss. Dennoch ist man theoretisch immer abrufbar, zumindest wenn Not am Mann ist. Die Aufgaben sind aber in der Regel klar abgegrenzt: Der Pressesprecher oder die Büromitarbeiter eines Zirkus müssen beispielsweise nicht beim Zeltaufbau oder bei Stallarbeiten mit anpacken. Allroundarbeiter gibt es nur in kleinen Wanderzirkussen. Auch dass Artisten in der Pause Popcorn verkaufen, ist eher in kleineren Unternehmen üblich. Die Kasse wird hingegen auch in größeren Betrieben häufig von der Zirkusfamilie selbst übernommen.

Bilder oben: Technik bei Roncalli (1) und Barum (2). - 3: Christian Kaiser aus Wolgast (Usedom) hatte sich dem Circus Europa angeschlossen, wo wir ihn 2007 antrafen. Er erzählte uns einiges aus dem Zirkusleben. - 4: Mitarbeiterpause beim Cirque du Soleil. Wohnwagen gibt es dort kaum, da die Artisten im Hotel wohnen und Mitarbeiter/innen pro Gastspielort angeworben werden. Allein deshalb hat der Mega-Zirkus weitaus weniger Atmosphäre als hiesige Wanderzirkusse. 

Bilder - 1-3: Das Winterquartier des Circus Krone an der Marsstraße in München. - 4: Sättel und Zaumzeug im Stallzelt des früheren ostdeutschen Zirkus Probst.

Bescheidener Lebensstandard

Der Komfort im Zirkus ist bescheiden, auch wenn Artisten und Chefs teilweise in Luxuswagen leben. Man muss sich aber auch als "First-Class-Reisender" im Klaren darüber sein, was das Leben im Wohnwagen konkret bedeutet: Auf den Zirkusplätzen ist es oftmals dreckig. Bei Regenwetter hat man ein Schlammfeld direkt vor der Haustür. Der Wagen muss von Ort zu Ort bewegt werden, hin und wieder gibt es technische Pannen, man bleibt unterwegs stecken oder kommt wegen Schnee und Glatteis nicht voran. Der Platz im Wohnwagen ist begrenzt. Wenn man Glück hat, kann man sich einen Wohnwagen mit WC oder Dusche leisten (oder bekommt einen solchen gestellt), das ist aber nicht selbstverständlich. Sogar in größeren Zirkussen müssen sich auch ranghöhere Mitarbeiter manchmal mit Gemeinschaftsduschen und Toiletten in separaten Wagen begnügen. Wenn es im Winter friert, gibt es Probleme mit Wasseranschlüssen. Ein Jahrmarkts-Schausteller, der nur im Wohnwagen lebt, berichtete mir einmal, dass er bei Dauerfrost tagelang das Wasser laufen lassen musste, damit die Leitung nicht zufror. Warmwasser gibt es ohnehin nur, wenn ein Zugang zu einer Wasserheizung besteht oder ein entsprechender Apparat im Wohnwagen installiert ist.

Früher war es in Großzirkussen Gang und Gäbe, dass die Mitreisenden drei Mahlzeiten am Tag erhielten. Eine Zirkusküche in der Art einer Kantine war dafür zuständig. Diesen Komfort gibt es heute nur noch in wenigen Ländern in sehr großen Zirkussen (Beispiel: Schweiz). In den meisten deutschen Unternehmen müssen sich die Mitreisenden selbst beköstigen. In kleinen Familienzirkussen kann man vielleicht mit der Zirkusfamilie gemeinsam Mittag essen, wenn man einen Draht zu ihr hat oder in entsprechend wichtiger Funktion dort arbeitet (ich wurde einmal als Berichterstatter einer Lokalzeitung zum Essen eingeladen).

Obere Reihe - 1: Bei Winterwetter gastierte der frühere Circus René & Patrizia Althoff in Langenfeld (Rheinland) auf einem inzwischen bebauten Brachgelände an der B 8. - 2: Sturmschäden beim Circus Voyage auf der Horner Rennbahn (HH-Horn). 

Untere Reihe - 1: Im früheren Circus Barum. - 2+3: Gassen von Arbeiterwohnwagen im Circus Knie (2) und Circus Krone (3).

Geringe soziale Absicherung

Auch die Standards bezüglich der Arbeitsverträge haben deutlich nachgelassen. Besonders umfassend war die soziale Absicherung freilich im ehemaligen Staatscircus der sozialistischen DDR. Dort reisten sogar Ärzte und Krankenschwestern mit; unter einem bestimmten Niveau durften die staatlichen Zirkusbetriebe gar nicht erst auf Tournee gehen. Aber auch in westdeutschen Großzirkussen konnte man in den 1950er bis -70er Jahren in einem ordentlichen Arbeitsverhältnis angemessen Geld verdienen und war sozusagen rundum versorgt.

Während es z.B. in der Schweiz (wo der Zirkus insgesamt einen höheren Stellenwert genießt) gesetzlich vorgeschrieben ist, die Mitarbeiter eines Zirkus sozialversicherungspflichtig zu beschäftigen, gibt es in deutschen Zirkussen oftmals nur einen vereinbarten Betrag bar auf die Hand. Geld ist im Zirkus ein schwieriges Thema. Ich habe mitbekommen, dass der Verhandlungspunkt in Bewerbungsgesprächen bis zuletzt aufgeschoben wird. Als Bewerber muss man - auch in höheren Funktionen - auf Sparflamme verhandeln, es sei denn man ist Spitzenartist. In einem unseriösen Zirkus kann es passieren, dass versprochenes Geld verzögert oder gar nicht ausgezahlt wird. Davon sind vor allem rangniedere Arbeiter betroffen. Ausländische Wanderarbeiter nehmen solche Zustände in Kauf, weil sie froh sind, mit dem Zirkus reisen zu dürfen. In den wirklich großen Unternehmen gibt es Derartiges freilich nicht.

Bilderstrecke: Aufbau des Circus Krone auf dem Heiligengeistfeld in Hamburg-St. Pauli. Bei großen Zirkussen ist  der Auf- und Abbau ein sehenswertes Ereignis, das nach genauen Abläufen funktioniert, wobei der Platz oftmals chaotisch wirkt. Auf dem Bild ganz oben links sieht man die noch liegenden Masten des Hauptzelts, bevor sie aufgerichtet werden. Unten rechts transportiert ein Fahrzeug Betonklötze, die unter anderem zur Sicherung des Platzes aufgestellt wurden.

Hohe Kosten - kaum öffentliche Unterstützung

Die verschlechterten infrastrukturellen und sozialen Bedingungen in den Zirkussen sind heute zum Großteil auf die erschwerten öffentlichen Voraussetzungen zurückzuführen. Viele Städte und Gemeinden stellen für Zirkusgastspiele keine zentralen Plätze mehr zur Verfügung. Innerstädtische Flächen sind aus Sicht der Stadtplaner zu kostbar, um sie als Freiflächen für Jahrmärkte und Zirkusse zu „verschenken“. So fallen immer mehr Grundstücke dem Bauwahn und der so genannten Gentrifizierung zum Opfer. Zirkusse müssen entweder am Stadtrand auf „grünen Wiesen“ gastieren, wo sie schwer erreichbar sind, oder auf engen innerstädtischen Grundstücken, die manchmal alles andere als ansehnlich sind. In Hamburg war den Großzirkussen zeitweise das freie Plakatieren verboten, wo doch gerade Plakate immer noch die wichtigste Form der Werbung reisender Zirkusse sind.

Die Zirkuskunst wurde in Deutschland 2022 als immaterielles Kulturerbe anerkannt. Damit ist ihre öffentliche Unterstützung insgesamt wahrscheinlicher geworden. Doch werden Zirkusse nicht - wie Theater oder Opern - öffentlich subventioniert, d.h. die Unternehmen müssen ihre Kosten selbst bestreiten. Die Ausgaben eines Reisezirkus sind enorm hoch (Jana Lacey-Krone bezifferte sie in einem Zeitungsinterview 2018 für den Circus Krone auf 28.000 Euro pro Tag): Teure Platzmieten müssen bezahlt werden; Stromkosten fallen an; Benzin und Reparaturen für die Transportfahrzeuge; Futter und Unterbringung für die Tiere; Ausgaben für Werbung und Reklame; Entlohnung der Mitarbeiter und Gagen für die Artisten - schließlich noch eine ganze Reihe steuerlicher Abgaben, von denen die Zirkusbranche besonders hart betroffen ist. Andererseits erwarten die Zuschauer ein gutes Programm und eine vorbildliche Tierhaltung. Beides ist jedoch nur realisierbar, wenn einem Zirkus genügend Geld und Platz zur Verfügung stehen. Die Zirkusse müssen entsprechend hohe Eintrittspreise nehmen, wenn sie einigermaßen respektable Programme bieten wollen.

Bilder oben: Gute Zirkusplätze werden rar. - 1+2: Die Galopprennbahn in HH-Horn ist ein schöner Platz, aber etwas versteckt gelegen. - 3: Der "Königsplatz" in Hamburg: Das Heiligengeistfeld. - 4: Auf dem Frascati-Platz in HH-Bergedorf gastieren kleine wie große Zirkusse, hier der C. Belly. - 5: Zentral, aber eng: Die Moorweide am Hamburger Dammtor-Bahnhof mit dem "alten" Zirkus Charles Knie. - 6+7: In Würzburg liegt der Platz für Zirkusse (hier Carl Busch) am Main nahe der Fernbahnstrecke. 

Bilder - 1: Nicht jeder Zirkus kann sich großflächige Plakate leisten wie der Circus Krone. - 2+3: Typische Plakate des Circus Werona in Cuxhaven. - 4: "Ladenhänger" nennt man die kleinen Plakate an Ladentüren oder (wie hier) an Stromkästen.

Es entsteht schnell ein Teufelskreis: Eine geringverdienende Familie mit mehreren Kindern kann sich einen Zirkusbesuch kaum mehr leisten; dabei hat ja gerade der Zirkus seit je her den Anspruch, für alle Bevölkerungsschichten interessant zu sein. Hohe Eintrittspreise halten Menschen vom Zirkusbesuch ab – oder werden vom Zirkus durch Ermäßigungs- oder Freikarten kompensiert, die in Geschäften überall im Ort bereitliegen, was dann aber wieder die Einnahmen für den Zirkus (und die Programmqualität) reduziert.

"Regulierungswut" contra "Fahrendes Volk"

Eine Flut von Gesetzen und Regelungen auf kommunaler, Landes-, Bundes- und EU-Ebene macht den reisenden Zirkussen zusätzlich zu schaffen. Nach einem EU-Gesetz dürfen Arbeitskräfte aus Nicht-EU-Staaten („Drittstaaten“) nicht mehr einfach angeheuert werden. In Zirkussen arbeiten aber traditionell viele Wanderarbeiter aus allen möglichen Ländern. Ihre Aufenthalts- bzw. Arbeitsgenehmigungen werden durch solche gesetzlichen Bestimmungen erschwert. Auch Sicherheitsvorschriften werden immer strenger. So dürfen in Norddeutschland Zirkusse, die noch nostalgische Zelte mit schräg stehenden Sturmstangen haben, nicht mehr in Küstennähe gastieren, obwohl es nie nennenswerte Zwischenfälle gab. Ein großes Thema sind die Tierschutzbestimmungen, deren Erfüllung den Zirkussen aufgrund der schlechten Plätze erschwert wird. Die Kampagnen der Tierrechtsorganisationen setzen den Zirkussen besonders hart zu. Deshalb wird auf viele Tierarten inzwischen auch ohne gesetzliches Verbot verzichtet.

Bilder - 1: Die Abspannseile bilden einen Teil der Befestigung des Zirkuszelts. Sie werden in der Regel mit Ankern im Boden befestigt (s. auch 2). - 3: Auf dem Hamburger Heiligengeistfeld ist das Anker-Schlagen wegen angeblicher Minen-Räumung seit Jahren untersagt. Der Circus Krone behilft sich hier mit Betonklötzen, um das Zelt zu sichern. Anderen Zirkussen ist das zu teuer, weshalb sie den Platz meiden. - 4: Betriebsfeuerwehr im Schweizer Circus Knie.

Bilder: Besucherandrang wie hier an der Kasse (1) und am Einlass (2) des Circus Berolina zeigt, dass Zirkus keineswegs "out" ist. Als Folge politischer Schwierigkeiten sind die Besucherzahlen allgemein jedoch stark rückläufig. Umso mehr freuen sich die Zirkusse über gut besuchte Vorstellungen (3: Circus Berolina - 4: Circus Krone).  

Mangel an qualifiziertem Nachwuchs

Die schwierigen Bedingungen, unter denen Zirkusse heute reisen, machen die Branche unattraktiv für qualifizierte Artisten. Die Absolventen der staatlichen Schule für Artistik und Ballett in Berlin orientieren sich beispielsweise größtenteils in Richtung Varieté, Gala-Event oder Fernsehshow und gehen bevorzugt zu Produktionen in der Sparte Neuer Circus (Nouveau Cirque). Zum Teil liegt das an der künstlerischen Ausrichtung der Artistenschulen, aber auch die Lebensbedingungen in den Wanderzirkussen dürften ausschlaggebend dafür sein, dass kaum noch Absolventen von Schulen den Weg in die Zirkuszelte finden. Zwar wächst in den zahlreichen kleinen Familienzirkussen artistischer Nachwuchs heran, meistens bleiben diese Leute jedoch im eigenen Familienbetrieb, anstatt eine größere Laufbahn einzuschlagen.

Bilder: Der Nachwuchs in deutschen Familienzirkussen bleibt meist im elterlichen Unternehmen oder in dem des angeheirateten Partners.  - 1: Piedestal für Handstandartistik im früheren Familiencircus Kaiser. - 2: Feuerspucker im Circus Kaiser. - 3: Stephanie Probst bleibt dem Zirkus ihrer Eltern treu. - 4: Hauseigene Drahtseil-Artistin im Circus Berolina.

Selbst gemachte Probleme der Branche

Es gibt in Deutschland heute nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 200 und 350 Wanderzirkusse - weitaus mehr als im vergangenen Jahrhundert. Leider sind viele Zirkusfamilien untereinander "verkracht" und haben weit verzweigte Einzelunternehmen gegründet, die sich mit gleichem Namen gegenseitig Konkurrenz machen. Gut klingende, bekannte Namen werden mitunter unseriös verwendet. Das exzessive Verteilen tierschaupflichtiger Freikarten durch manche Zirkusse suggeriert den Zuschauern, sie bekämen guten Zirkus zum Spottpreis zu sehen. Oder es werden Attraktionen angekündigt, die der Zirkus gar nicht führt. Ein unbedarfter Besucher weiß letztlich nicht, welcher Zirkus qualitativ gut ist. Möglicherweise landet er in einem bescheidenen Programm, für das er relativ viel Geld ausgegeben hat; den nächsten Zirkus meidet er dann lieber, obwohl dieser viel bessere Qualität geboten hätte. Außerdem halten sich manche Zirkusse nicht an getroffene Absprachen mit den Behörden der Gastspielorte. Städte und Gemeinden haben mitunter Ärger mit Zirkussen, die den Platz in schlechtem Zustand hinterlassen oder nicht in der vereinbarten Frist verlassen. Und nicht zuletzt denken viele Zirkusse nach wie vor in erster Linie an ihren eigenen Vorteil, anstatt sich mit anderen zu einer Interessengemeinschaft zusammenzuschließen. Das starke Konkurrenzdenken ist seit alters her typisch für die Branche.

Bilder: Zirkusbesuchern in Deutschland wird die Auswahl nicht leicht gemacht. - 1: Der Moskauer Zirkus eines Zweigs der Familie Frank ist zwar nicht russisch, zeigt aber ein gutes, internationales Programm. - 2: Eine andere Frank-Familie führt den kleinen, aber feinen Hamburger Circus Europa. - 3: Circus Traber aus Dormagen - anscheinend verwandt mit der bekannten Hochseil-Familie. 4: Aus einer Norddeutschland-Tour wird in der Werbung schon mal eine "Euro-Tour" (Circus Werona).

Spärliche Lobby

Mit Politik haben bzw. hatten die meisten Zirkusleute nichts am Hut. 2016 jedoch gründeten einige deutsche Zirkusdirektoren und Artisten den Verband deutscher Circusunternehmen (VdCU e.V.), der als öffentliches Organ – ähnlich dem schon lange existierenden Schaustellerverband – Möglichkeiten der politischen Einflussnahme hat. Ferner gibt es als Dachorganisationen die European Circus Association (ECA) und die Féderation Mondiale du Cirque, letztere mit Prinzessin Stéphanie von Monaco als Ehrenpräsidentin. Liebhaber der Zirkuskunst sind teilweise organisiert in Vereinen wie der Gesellschaft der Circusfreunde (GCD) e.V.. Solche Organisationen haben jedoch nur sehr begrenzt Einfluss auf Medien und Politik. Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen wurden Sendeformate für Zirkusshows systematisch abgespeckt oder eingefroren.

Von politischer Seite gibt es nur selten konkrete Stellungnahmen für den klassischen Zirkus. Hin und wieder kommt Unterstützung aus den Reihen der CDU. So hieß es schon 2009 in einer Presseerklärung der CDU-/CSU-Bundestagsfraktion: "Das Kulturgut Zirkus muss Bestand haben. Der Kontakt und die Liebe vom Mensch zum Tier wird im Zirkus gefördert und geschult. Wir wollen auch weiterhin das Leuchten in den Kinderaugen sehen, wenn sie einen Zirkus besuchen." (Abgedruckt im Programmheft des 15. Gelsenkirchener Weihnachtscircus, Circus Probst). Die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, gab 2019 folgende Stellungnahme ab"Circus art is a vivid part of Europe's cultural heritage with a history, in all its forms, that spans centuries." Mit der Anerkennung der Zirkuskunst als immaterielles Kulturerbe durch die UNESCO 2022 wurde in Deutschland ein Fortschritt erzielt.

Bilder - 1: Fuhrpark, Zelt und Besucherparkplatz des früheren Cirkus Benneweis im dänischen Aabenraa. - 2-6: Verschiedene Kassenwagen in den Zirkussen Carl Busch (2), Traber (3), Belly (4), Probst (5) und "Ost"-Probst (6). - 7: Liebevoll dekorierter Toilettenwagen des Circus Europa.

Hingehen und anschauen

Um die Zirkusse zu unterstützen, können wir nur dazu ermuntern, Programme in der Nähe des eigenen Wohnortes oder am Urlaubsort zu besuchen. Spätestens um Weihnachten herum boomt das Geschäft der Weihnachtszirkusse derart, dass Deutschland jedes Jahr zu einem Zentrum der Zirkuskunst in Europa wird. Schade, dass diese Attraktivität und Qualität nicht mehr in den klassischen Sommertourneen erreicht wird - ist doch die Weihnachtszeit ansonsten eher eine Zeit der (christlichen) Besinnung. Aber so oder so: Zirkus lohnt sich als Erlebnis für die ganze Familie - auch und erst recht der Zirkus in seiner klassischen Form!

Bilder: Zirkus- und Jahrmarktsorgel (1) und Einlass (2) vor dem Schweizer Circus Knie. - 3: Belebte Pause bei einer Premiere des Circus Krone in Hamburg. An der Laterne wieder Betonklötze, die man für Befestigungen benötigte (s. Bild weiter oben).